Buchbesprechung „Religiöse Visionen“

Buchbesprechung von David Boadella, Begründer der Biosynthese. Diese Buchbesprechung ist erschienen in Energie & Charakter, Zeitschrift für Biosynthese (2005), 29 (36), S. 91-93.

Buch: Religiöse Visionen. Tanja Scagnetti-Feurer (Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, EUR 39,80)

„In der Biosynthese unterscheiden wir zwischen kreativen und restriktiven inneren Bildern: kreative Bilder inspirieren, erleuchten und erfrischen, setzen neue Richtungen und eröffnen Möglichkeiten aus den tiefen Zentren des Selbst. Restriktive innere Bilder andererseits können uns in Alpträume traumatischer Eindrücke stürzen (Hölle) oder uns in die Illusionen führen, die Arthur Janov das symbolische Labyrinth genannt hat, welches wir als ausweichende und schwer fassbare Art des „spacing out“ verstehen können, das sich vom wirklichen Himmel völlig unterscheidet.

In diesem Zusammenhang ist es mir eine grosse Freude, ein neues Buch zu empfehlen, das sich mit dem bedeutsamen Thema religiöser Visionen auf klare und tiefe Art und Weise auseinandersetzt.

Menschen, die spirituelle Erfahrungen in Form von Visionen haben, laufen immer wieder Gefahr, in ihrer Umgebung auf Unverständnis zu stossen oder gar pathologisiert zu werden. Dies geschieht meist ungeachtet dessen, in welchem Kontext eine Vision auftritt und ohne ihre Folgen und die Konsequenzen im Leben des Betroffenen genügend einzubeziehen. Dass das Spektrum, in dem visionäre Erfahrungen auftreten können, sehr breit ist und von mystischen Einheitserfahrungen bis zu psychotischen Zuständen reicht, wird dabei oft übersehen. Tanja Scagnetti-Feurer geht in ihrem Buch auf solche Differenzierungen religiöser Visionen ein und zeigt auf, dass aussergewöhnliche Erfahrungen nicht vorschnell pathologisiert werden sollten, da damit ihre oftmals tief transformierende Qualität nicht im Leben nutzbar gemacht werden kann.

Religiöse Visionen - Tanja Scagnetti-Feurer-600Sie beleuchtet nach einer Einführung in die Thematik von Spiritualität und visionären Erfahrungen in einem ersten Teil das Phänomen der Vision aus verschiedenen Perspektiven: Aus der Sicht transpersonaler Bewusstseinsmodelle (Wilber, Assagioli, Scharfetter), der christlichen Mystik, im Zusammenhang mit spirituellen Krisen und im Kontext psychotischen Erlebens. Dabei arbeitet sie Gemeinsamkeiten und Unterscheidungskriterien von Visionen in den verschiedenen Kontexten heraus. Verschiedene Grafiken und Tabellen bieten übersichtliche Zusammenfassungen dazu.

Visionen werden so zunächst als Formen veränderter Bewusstseinszustände betrachtet. Über die Sichtweise von Visionen als Begleiterscheinungen eines mystisch-spirituellen Weges wird der Leser und die Leserin mit verschiedenen Typen, Voraussetzungen und Folgen visionärer Erfahrungen vertraut und bekommt einen bewegenden Einblick in die Erscheinungsformen und die spirituelle Bedeutung von Visionen. Dass visionäre Erfahrungen auch im Zusammenhang mit einem erschütternden Erleben in spirituellen Krisen auftreten können, wird ebenso deutlich wie die Notwendigkeit der Integration solcher Erfahrungen in den Alltag, um dem Betroffenen eine Erdung zu ermöglichen. Visionen können auch – und das ist den im Bereich der Psychiatrie Tätigen wohl der vertrauteste Fall – im Kontext von psychotischem Erleben auftreten. Visionäre Erfahrungen werden hier als Erscheinungen in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess verstanden, der in eine schwere Krise geraten ist. Der Lebenskontext der Erfahrungen, die Folgen der Visionen und der Umgang von Betroffenen mit ihren Erfahrungen unterscheiden sich dabei deutlich von Visionen im Zusammenhang mit einem mystisch-spirituellen Weg.

Tanja Scagnetti-Feurer zeigt ein breites Spektrum an möglichen Reaktionen auf visionäre Erfahrungen auf. So können Visionen zu verschiedenen Arten von Hindernissen und Schwierigkeiten auf einem spirituellen Weg führen oder aber eine Quelle innerer Inspiration darstellen, in der der Betroffene eine tiefe Verbindung zu seinem innersten Wesenskern und dem Kern in allem erlebt.

In einer qualitativ-empirischen Untersuchung (dem zweiten Hauptteil des Buches) werden die biografischen Hintergründe und das visionäre Erleben einer Gruppe von psychisch Gesunden und einer Gruppe von Menschen erörtert, die sich in einer psychotischen Krise befinden. Über Ausschnitte aus Interviews mit diesen Betroffenen, kommt die Leserin und der Leser mit unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensgeschichten in Berührung. Es wird dabei unmittelbar deutlich, wie verschieden die Entstehungszusammenhänge, der lebensgeschichtliche Kontext, die Erfahrung selbst sowie die Folgen und der Umgang mit der Vision sein können. Wo bei den Betroffenen einer psychotischen Krise eine schwere Erschütterung im Zusammenhang mit der visionären Erfahrung deutlich wird, die Visionen zu einer Selbstüberhöhung führten und grosse Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt auftraten, wirkten sich die spirituellen Erlebnisse der psychisch Gesunden inspirierend auf die verschiedensten Lebensbereiche aus. Im letzteren Fall wird ein Potential solcher Erfahrungen deutlich, das in den untersuchten Fällen dann hervortreten konnte, wenn die Betroffenen einen adäquaten Interpretationsrahmen für ihre Erfahrungen zur Verfügung hatten und eine Realitätsüberprüfung und eine Integration des Erlebens in ihren Alltag stattfinden konnte. Möglichkeiten zur Erdung visionärer Erfahrungen werden erwähnt.

Das Buch wurde als Lizentiatsarbeit in einem wissenschaftlichen Rahmen verfasst und eignet sich für Fachpersonen und von Visionen Betroffenen gleichermassen.

Diese seltene Verbindung von Objektivität und Subjektivität ist eine Besonderheit dieses Buches, das mit vielen übersichtlichen Diagrammen zu den Beziehungen zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen oder -stadien illustriert ist. Ein konstantes Thema in diesem Buch, das ich all unseren Studenten empfehle, ist die Möglichkeit tiefer Heilung, in welcher das, was wir restriktive innere Bilder nennen, transformiert und eine tiefe Entwicklung des latenten, hinter dem Schmerz verschütteten Potentials ermöglicht werden kann. Dies ist ein Buch, das viele praktische Vorschläge zur Begleitung und Unterstützung von Menschen in psychotischen Zuständen bietet und das diese darin unterstützen kann, nicht in der Pathologie gefangen zu sein, sondern ihre einmaligen und individuellen Qualitäten wieder-zuentdecken.“

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